RP; 04.03.2022
Wesel Innerhalb von zwei
Tagen mobilisieren sich 2000 Schüler gegen den Krieg und starten eine
Demonstration in der Weseler Innenstadt. Wie geht es ihnen, wenn sie die
Nachrichten sehen? Und haben sie Angst?
Von Henning Rasche
Charlotte Albrecht hat sich schon Blasen gelaufen, dabei ist die Demonstration noch gar nicht gestartet. Die Korridore im Konrad-Duden-Gymnasium in der Feldmark in Wesel sind lang. Um vom Büro der Schulleiterin Karen Schneider in die Bibliothek zu gelangen, einem ruhigen Plätzchen mit vier Sesseln zwischen Bücherregalen, muss man einige Glastüren öffnen und hinter sich zufallen lassen, die Smartwatch zählt jeden Schritt mit. Charlotte Albrecht, 18, schwarzer Kapuzenpulli, schwarze Jeans, schwarze Boots, ist in den vergangenen zwei Tagen unzählige Korridore ihrer Schule abgeschritten. Sie hatte eine der größten Schülerdemos des Landes zu organisieren. Was sein muss, muss sein.
Ihre Tage sind gerade gut gefüllt. Am Mittwoch hatte sie eine
Vorabiklausur zu schreiben, Erdkunde, neun Stunden Unterricht,
Hausaufgaben, der übliche Wahnsinn. Und dazwischen Kontakt mit den
Schülersprechern der anderen Schulen, Videogespräche mit der
Schulleiterin, Whatsapp hier, Whatsapp da, um 22 Uhr war Charlotte
Albrecht dann soweit, dass sie ihre Rede schreiben konnte. Nicht ganz
unwichtig, wenn man eine halten möchte.
„Wir laufen ja mit offenen Augen durch die Welt“: Charlotte Albrecht und Matthias Bur machen gerade ihr Abitur am Konrad-Duden-Gymnasium. Foto: Henning Rasche
Man könnte also meinen, es ist jetzt, am Donnerstag, eine Stunde bevor der Sternenmarsch aller Schulen in Wesel starten soll, ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um über all das zu sprechen. Aber die Schulsprecherin des Konrad-Duden-Gymnasiums macht nicht den Eindruck, als wäre das ein bisschen viel. Sie muss nur noch eben Matthias Bur, ebenfalls 18 und in der Schülervertretung, das Fenster aufmachen, damit der reinklettern kann, um auch in einem dieser Markus-Lanz-haften Sessel in der Bibliothek Platz zu nehmen. Da sitzen wir nun, und sprechen über Krieg.
Charlotte Albrecht erzählt, dass sie sich am Sonntagabend mit ihren Freunden zwei Stunden lang über den Krieg in der Ukraine unterhalten hat. Dass sie sich gefragt haben, in was für eine Welt sie da entlassen werden, nach dem Abitur, ob man Kinder zeugen sollte, während Panzer rollen und Bomben fallen. Und sie fanden, dass es richtig ist, für demokratische Werte einzustehen und für Frieden. Als Karen Schneider, die Schulleiterin fragte, ob sie Lust darauf hätten, zu demonstrieren, sagte sie sofort: Klar.
Sie geben sich keinen Illusionen hin, sie wissen, dass sich der russische Präsident Wladimir Putin
auch von 2000 Weseler Schülern nicht beeindrucken lassen wird. Aber
darum geht es nicht. Matthias Bur sagt: „Ich fühle mich nicht wohl bei
dem Gedanken, nichts zu tun.“ Und: „Demonstrieren ist das sinnvollste,
was man tun kann.“ Bilder gehen rum, Bilder machen Mut, einem selbst und
hoffentlich auch anderen. Charlotte Albrecht sagt: „Natürlich kann man
denken, dass es heuchlerisch ist, ein Schild hochzuhalten.“ Man sollte
aber das Privileg, dass man in Deutschland seine Meinung äußern kann,
nutzen. In Russland geht das schließlich nicht.
Die Gewissheiten bröseln. Der Brexit, ein Schock. Trump, ein Schock. Die Pandemie, ein Schock. Der Krieg, eine Katastrophe. Das ist das Gefühl des Reporters, aber wie geht es den 18-jährigen Schülern?
Matthias Bur sagt: „Naja, es ist ja nicht so, dass in den letzten Jahren alles super war.“ Und Charlotte Albrecht sagt, dass der Klimawandel in der Aufzählung fehlt, der auch eine Katastrophe ist und andere Länder als Deutschland noch schlimmer und schneller treffen werde. Aber klar: „Wir haben nie Krieg erlebt. Das ist ein Einschnitt“, sagt Charlotte Albrecht. Und Matthias Bur sagt: „Wir laufen ja mit offenen Augen durch die Welt.“ Der Krieg ist ein Thema zwischen den Schülern, auf den Schulhöfen, in den Kinderzimmern. Ihre Brüder, 12 und 13, beschäftige der Krieg auch sehr, erzählen die beiden.
Und nun, haben sie Angst? „Angst ist lähmend“, sagt Matthias Bur. Man
sollte vorsichtig sein, nichts provozieren, keine voreiligen
Entscheidungen treffen. Und Charlotte Albrecht sagt: „Die Angst sollte
uns nicht in Ohnmacht versetzen.“ Wie schnell nun 100 Milliarden Euro
für die Bundeswehr
bereitgestellt werden sollen, finden die beiden Schüler erschreckend.
„Wenn ich die letzten zwei Jahre auf der Intensivstation gearbeitet
hätte, würde ich mich wundern, wo auf einmal das Geld herkommt“, sagt
Charlotte Albrecht. Dann muss sie weg, die Demonstration.